Zitat:
Was hat Österreich mit seiner lange aufrechterhaltenen Blockadehaltung in der Türkei-Frage erreicht? Die Einschätzungen darüber gehen in den Medien auseinander.
Die Forderung Österreichs, dass explizit auch über eine Alternative zu einer Vollmitgliedschaft der Türkei verhandelt werden soll, findet sich im Kompromiss des Außenministerrats am Montag in Luxemburg nicht wieder. Mit dieser Haltung konnte sich Österreich nicht durchsetzen. Bestätigt wurde aber eine stärkere Betonung der Aufnahmefähigkeit der EU als Voraussetzung für einen Beitritt der Türkei.
Was wurde erreicht?
Das wurde in Österreich von Kommentatoren als der große Erfolg von Außenministerin Ursula Plassnik und Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (beide ÖPV) gewertet. Als Erfolg galt auch, dass die Briten im Fall eines EU-Beitritts der Türkei an den dadurch entstehenden Kosten beteiligt würden.
Der in manchen Kommentaren vermittelte Eindruck, damit wäre der "Britenrabatt" grundsätzlich weg, täuscht freilich.
Der Abend aus der Sicht der "F.A.Z."
"Die Türkei-Verhandlungen waren lange vom Scheitern bedroht, weil Österreich verlangt hatte, das Ziel eines Beitritts der Türkei als Ziel nicht explizit zu erwähnen", lautet auch der Bericht der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
Plassnik habe aber im Laufe des Montags unter dem Druck der anderen 24 Mitgliedsstaaten auf den größten Teil der Wiener Nachforderungen verzichtet.
"So blieb es in dem offiziellen Text bei der schon im Dezember gemachten Aussage, dass das Ziel der Verhandlungen der Beitritt sei. Wien akzeptierte, dass der Satz 'Gemeinsames Ziel der Verhandlungen ist die Mitgliedschaft' im Verhandlungsrahmen enthalten bleibt."
Kopfschütteln im ARD-Kommentar
Dass Plassnik genau diesen Satz, man sei immer für die Beitrittsperspektive gewesen, gegenüber der Presse bestätigte, quittierten Beobachter mit Kopfschütteln, etwa die ARD, die meinte, Österreich habe "so gut wie keine Änderung" erreicht.
Wenn man grundsätzlich etwas gegen den Beitritt der Türkei habe, dann solle man das sagen, so ARD-Korrespondent Rolf-Dieter Krause, der am Montag sehr viel Porzellan zwischen der EU und der Türkei zerschlagen sah.
Wende auch wegen Kroatien
Internationale Medien sehen durchaus auch ein Junktim der aufgegebenen österreichischen Blockadehaltung mit der Wende in der Kroatien-Frage.
Der belgische "De Standaard" schreibt zur österreichischen Position: "Verhandeln mit der Türkei und nicht mit Kroatien ist für die Österreicher wie Fluchen in der Kirche. Die österreichische Regierung bestreitet, dass sie eine Verbindung zwischen dem türkischen und dem kroatischen Beitrittsdossier geknüpft hat, aber allgemein wird angenommen, dass dies doch so ist."
"Del Ponte entscheidend"
"Die Intervention von Carla del Ponte war entscheidend", befindet auch der französische "Le Soir".
"Corriere": "Alte Gespenster"
"Die Türken sind zwar dieses Mal nicht vor den Toren Wiens gestoppt worden, wie es den Ottomanen vor mehr als drei Jahrhunderten passiert ist, aber die Vereinbarungen, die am Montag zwischen den Europäern und dem Anwärter aus Ankara ausgehandelt wurden, lassen doch einige alte Gespenster wieder auferstehen", befindet der konservative "Corriere della Sera".
Handlung mit Symbolwert
Das "Handelsblatt" interpretierte Plassniks Haltung in der Türkei-Frage als Symbolhandlung einer jungen Außenministerin, die sich vor den Augen der Bevölkerung profilieren habe wollen: "Als Leitmotiv hat sie sich dabei gesetzt, 'das Vertrauen der Bürger' in die EU wiederzugewinnen."
Grundsätzliche Betrachtung
Die spanische Zeitung "El Mundo" sieht den Montag abgekoppelt von der Rolle Österreichs. Es fehle der EU grundsätzlich ein Plan B. Der Vorschlag Österreichs sei abgelehnt worden.
"Das eigentliche Problem liegt weder in der türkischen Gesetzgebung noch in der Kultur oder Religion, sondern in der großen Einwohnerzahl und dem wirtschaftlichen Niveau. Die EU hat die vorige Erweiterung längst nicht verdaut. Da scheuen viele EU-Staaten davor zurück, ein Land mit 70 Millionen Menschen und einer völlig verarmten Wirtschaft aufzunehmen", so "El Mundo".
"Taz" spürt die Luft von 1683
Die linke Berliner "taz" meint wiederum, Österreich habe viel Porzellan zerschlagen. "Ein Hauch von 1683" sei durch Österreich "geweht." Die ÖVP habe sich wieder "wie ein Bollwerk des christlichen Abendlandes wider die Ungläubigen" verhalten.
"SZ": "Vorbereitung für 2006"
Die "Süddeutsche Zeitung" interpretierte den breiten Parteienkonsens gegen die Türkei als allgemeine Vorpositionierung für die "Nationalratswahlen im Jahr 2006". "Die ÖVP hat ein noch stärkeres Motiv: Rache für die 'Sanktionen gegen Österreich'", so die "SZ".
Die konservative britische "Times" gratuliert Labour-Außenminister Jack Straw. Sein Einsatz habe Europa vor einer "selbstzufriedenen Verkalkung" bewahrt, in der wieder der "Zusammenstoß der Kulturen" zelebriert worden wäre.
Türkische Presse aufgewühlt
Die türkische Presse setzte sich in ihrer Berichterstattung über die Einigung auf den EU-Verhandlungsrahmen für die Türkei am Dienstag kritisch mit der österreichischen Rolle auseinander.
"Wiener Walzer" lautete die Schlagzeile, unter der das Massenblatt "Hürriyet" über das Tauziehen von Luxemburg berichtete. Für den Fall, dass die Verhandlungen am österreichischen Widerstand scheitern, hatte "Hürriyet" bereits eine alternative Titelseite vorbereitet, wie die Redaktion berichtete: In diesem Fall hätte die führende Zeitung der Türkei mit einem ganzseitigen Porträt von Adolf Hitler aufgemacht und dieses mit der Schlagzeile "Wieder derselbe Ungeist" versehen.
In einer Analyse zur österreichischen Rolle bei den Verhandlungen erwägt "Hürriyet", ob Österreich vom "Kleine-Länder-Syndrom", von Ausländerfeindlichkeit oder vom unbewältigten Trauma der türkischen Belagerungen von Wien motiviert wurde. Möglich sei auch, dass Wien von anderen Kräften in der EU als "Bauernfigur" benutzt wurde, heißt es darin.
"Wien ist gefallen"
"Wien ist gefallen", überschrieb die liberale Tageszeitung "Milliyet" ihren Bericht zur österreichischen Rolle in Luxemburg. Als "190 Zentimeter blonden Eigensinn" präsentierte das Blatt Plassnik, die auch von mehreren anderen Zeitungen porträtiert wurde.
"Wir haben durchgehalten, wir haben gewonnen", lautete die Balkenschlagzeile der unabhängigen Tageszeitung "Vatan".
"NZZ" mahnt zu Pragmatismus
Die Türkei habe die EU schon genügend lange beschäftigt, so die "Neue Zürcher Zeitung", "dass die Europäer eigentlich wissen sollten, was sie wollen".
"Der Beginn der Verhandlungen ist nun beschlossene und bestätigte Sache, ein richtiger und wichtiger Schritt. (...) Auch einer von der CDU geführten großen Koalition in Deutschland wird es kaum gelingen, den Beitritt einer Türkei zu verhindern, die die von der EU gestellten Bedingungen schließlich ganz klar erfüllt", so die "NZZ".
Immer der kleinste gemeinsame Nenner
Pragmatisch-ernüchtert sieht das konservative "Svenska Dagbladet" den Montag in Luxemburg:
"Das byzantinische interne Geschacher, das sich am Montag in Luxemburg in die Länge zog, zeigt eine Ursache auf, weswegen die EU in der internationalen Diplomatie weiterhin ein Zwerg bleibt. Ein einziges Land kann sogar einen bereits gefassten Beschluss blockieren, der für die EU von vitaler strategischer Bedeutung ist. Die strategische Analyse wird zur Frage über den kleinsten gemeinsamen Nenner."
Quelle: orf.at
Die Forderung Österreichs, dass explizit auch über eine Alternative zu einer Vollmitgliedschaft der Türkei verhandelt werden soll, findet sich im Kompromiss des Außenministerrats am Montag in Luxemburg nicht wieder. Mit dieser Haltung konnte sich Österreich nicht durchsetzen. Bestätigt wurde aber eine stärkere Betonung der Aufnahmefähigkeit der EU als Voraussetzung für einen Beitritt der Türkei.
Was wurde erreicht?
Das wurde in Österreich von Kommentatoren als der große Erfolg von Außenministerin Ursula Plassnik und Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (beide ÖPV) gewertet. Als Erfolg galt auch, dass die Briten im Fall eines EU-Beitritts der Türkei an den dadurch entstehenden Kosten beteiligt würden.
Der in manchen Kommentaren vermittelte Eindruck, damit wäre der "Britenrabatt" grundsätzlich weg, täuscht freilich.
Der Abend aus der Sicht der "F.A.Z."
"Die Türkei-Verhandlungen waren lange vom Scheitern bedroht, weil Österreich verlangt hatte, das Ziel eines Beitritts der Türkei als Ziel nicht explizit zu erwähnen", lautet auch der Bericht der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".
Plassnik habe aber im Laufe des Montags unter dem Druck der anderen 24 Mitgliedsstaaten auf den größten Teil der Wiener Nachforderungen verzichtet.
"So blieb es in dem offiziellen Text bei der schon im Dezember gemachten Aussage, dass das Ziel der Verhandlungen der Beitritt sei. Wien akzeptierte, dass der Satz 'Gemeinsames Ziel der Verhandlungen ist die Mitgliedschaft' im Verhandlungsrahmen enthalten bleibt."
Kopfschütteln im ARD-Kommentar
Dass Plassnik genau diesen Satz, man sei immer für die Beitrittsperspektive gewesen, gegenüber der Presse bestätigte, quittierten Beobachter mit Kopfschütteln, etwa die ARD, die meinte, Österreich habe "so gut wie keine Änderung" erreicht.
Wenn man grundsätzlich etwas gegen den Beitritt der Türkei habe, dann solle man das sagen, so ARD-Korrespondent Rolf-Dieter Krause, der am Montag sehr viel Porzellan zwischen der EU und der Türkei zerschlagen sah.
Wende auch wegen Kroatien
Internationale Medien sehen durchaus auch ein Junktim der aufgegebenen österreichischen Blockadehaltung mit der Wende in der Kroatien-Frage.
Der belgische "De Standaard" schreibt zur österreichischen Position: "Verhandeln mit der Türkei und nicht mit Kroatien ist für die Österreicher wie Fluchen in der Kirche. Die österreichische Regierung bestreitet, dass sie eine Verbindung zwischen dem türkischen und dem kroatischen Beitrittsdossier geknüpft hat, aber allgemein wird angenommen, dass dies doch so ist."
"Del Ponte entscheidend"
"Die Intervention von Carla del Ponte war entscheidend", befindet auch der französische "Le Soir".
"Corriere": "Alte Gespenster"
"Die Türken sind zwar dieses Mal nicht vor den Toren Wiens gestoppt worden, wie es den Ottomanen vor mehr als drei Jahrhunderten passiert ist, aber die Vereinbarungen, die am Montag zwischen den Europäern und dem Anwärter aus Ankara ausgehandelt wurden, lassen doch einige alte Gespenster wieder auferstehen", befindet der konservative "Corriere della Sera".
Handlung mit Symbolwert
Das "Handelsblatt" interpretierte Plassniks Haltung in der Türkei-Frage als Symbolhandlung einer jungen Außenministerin, die sich vor den Augen der Bevölkerung profilieren habe wollen: "Als Leitmotiv hat sie sich dabei gesetzt, 'das Vertrauen der Bürger' in die EU wiederzugewinnen."
Grundsätzliche Betrachtung
Die spanische Zeitung "El Mundo" sieht den Montag abgekoppelt von der Rolle Österreichs. Es fehle der EU grundsätzlich ein Plan B. Der Vorschlag Österreichs sei abgelehnt worden.
"Das eigentliche Problem liegt weder in der türkischen Gesetzgebung noch in der Kultur oder Religion, sondern in der großen Einwohnerzahl und dem wirtschaftlichen Niveau. Die EU hat die vorige Erweiterung längst nicht verdaut. Da scheuen viele EU-Staaten davor zurück, ein Land mit 70 Millionen Menschen und einer völlig verarmten Wirtschaft aufzunehmen", so "El Mundo".
"Taz" spürt die Luft von 1683
Die linke Berliner "taz" meint wiederum, Österreich habe viel Porzellan zerschlagen. "Ein Hauch von 1683" sei durch Österreich "geweht." Die ÖVP habe sich wieder "wie ein Bollwerk des christlichen Abendlandes wider die Ungläubigen" verhalten.
"SZ": "Vorbereitung für 2006"
Die "Süddeutsche Zeitung" interpretierte den breiten Parteienkonsens gegen die Türkei als allgemeine Vorpositionierung für die "Nationalratswahlen im Jahr 2006". "Die ÖVP hat ein noch stärkeres Motiv: Rache für die 'Sanktionen gegen Österreich'", so die "SZ".
Die konservative britische "Times" gratuliert Labour-Außenminister Jack Straw. Sein Einsatz habe Europa vor einer "selbstzufriedenen Verkalkung" bewahrt, in der wieder der "Zusammenstoß der Kulturen" zelebriert worden wäre.
Türkische Presse aufgewühlt
Die türkische Presse setzte sich in ihrer Berichterstattung über die Einigung auf den EU-Verhandlungsrahmen für die Türkei am Dienstag kritisch mit der österreichischen Rolle auseinander.
"Wiener Walzer" lautete die Schlagzeile, unter der das Massenblatt "Hürriyet" über das Tauziehen von Luxemburg berichtete. Für den Fall, dass die Verhandlungen am österreichischen Widerstand scheitern, hatte "Hürriyet" bereits eine alternative Titelseite vorbereitet, wie die Redaktion berichtete: In diesem Fall hätte die führende Zeitung der Türkei mit einem ganzseitigen Porträt von Adolf Hitler aufgemacht und dieses mit der Schlagzeile "Wieder derselbe Ungeist" versehen.
In einer Analyse zur österreichischen Rolle bei den Verhandlungen erwägt "Hürriyet", ob Österreich vom "Kleine-Länder-Syndrom", von Ausländerfeindlichkeit oder vom unbewältigten Trauma der türkischen Belagerungen von Wien motiviert wurde. Möglich sei auch, dass Wien von anderen Kräften in der EU als "Bauernfigur" benutzt wurde, heißt es darin.
"Wien ist gefallen"
"Wien ist gefallen", überschrieb die liberale Tageszeitung "Milliyet" ihren Bericht zur österreichischen Rolle in Luxemburg. Als "190 Zentimeter blonden Eigensinn" präsentierte das Blatt Plassnik, die auch von mehreren anderen Zeitungen porträtiert wurde.
"Wir haben durchgehalten, wir haben gewonnen", lautete die Balkenschlagzeile der unabhängigen Tageszeitung "Vatan".
"NZZ" mahnt zu Pragmatismus
Die Türkei habe die EU schon genügend lange beschäftigt, so die "Neue Zürcher Zeitung", "dass die Europäer eigentlich wissen sollten, was sie wollen".
"Der Beginn der Verhandlungen ist nun beschlossene und bestätigte Sache, ein richtiger und wichtiger Schritt. (...) Auch einer von der CDU geführten großen Koalition in Deutschland wird es kaum gelingen, den Beitritt einer Türkei zu verhindern, die die von der EU gestellten Bedingungen schließlich ganz klar erfüllt", so die "NZZ".
Immer der kleinste gemeinsame Nenner
Pragmatisch-ernüchtert sieht das konservative "Svenska Dagbladet" den Montag in Luxemburg:
"Das byzantinische interne Geschacher, das sich am Montag in Luxemburg in die Länge zog, zeigt eine Ursache auf, weswegen die EU in der internationalen Diplomatie weiterhin ein Zwerg bleibt. Ein einziges Land kann sogar einen bereits gefassten Beschluss blockieren, der für die EU von vitaler strategischer Bedeutung ist. Die strategische Analyse wird zur Frage über den kleinsten gemeinsamen Nenner."
Quelle: orf.at
HM! Ich will deinen Brudern nicht so voreilig verdammen. Um ein Werk zu beurteilen, muß man tiefer eindringen. ....... (c)Titus / Der Talisman / Johann Nestroy
04.10.2005 14:52